BGH: Neue Maßstäbe für die Abgrenzung von Kundenanlage und Verteilernetz nach EnWG und EU-Recht
Energierecht

Auf einen Blick
Der BGH hat am 13. Mai 2025 (Az. EnVR 83/20) entschieden, dass viele bisherige Kundenanlagen als regulierte Verteilernetze einzustufen sind.
Die bisherige deutsche Sonderregelung zur Kundenanlage ist mit dem europäischen Energierecht nicht vereinbar; maßgeblich ist nun die Definition des Verteilernetzes nach der EU-Richtlinie 2019/944.
Nur noch Energieanlagen, die nicht der entgeltlichen Weiterleitung von Strom an Dritte dienen (z.B. reine Eigenversorgung), können als Kundenanlagen gelten.
Geschlossene Verteilernetze oder reine Eigenversorgungsanlagen bleiben möglich.
Sachverhalt
Im zugrundeliegenden Fall betrieb ein Energieversorgungsunternehmen an mehreren Standorten Blockheizkraftwerke und Nahwärmenetze, mit denen es Mieter in mehreren Wohnblöcken mit Strom und Wärme versorgte. Die Antragstellerin plante, den in den Blockheizkraftwerken erzeugten Strom über eigene Leitungen direkt an die Mieter zu verkaufen und beantragte dafür den Anschluss zweier getrennter Energieanlagen als Kundenanlagen gemäß § 3 Nr. 24a EnWG an das örtliche Verteilernetz. Die Netzbetreiberin lehnte dies ab, da es sich ihrer Ansicht nach nicht um Kundenanlagen handelte.
Die Landesregulierungsbehörde und das OLG Dresden (Beschluss vom 16.09.2020, Kart 9/19) wiesen die Anträge der Betreiberin zurück. Im weiteren Verlauf setzte der BGH das Verfahren aus und legte dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) eine Vorlagefrage zur Auslegung der einschlägigen EU-Richtlinie vor (BGH, Beschluss vom 13.12.2022, EnVR 83/20; EuGH, Urteil vom 28.11.2024, C-293/23).
Entscheidung des EuGH
Der EuGH stellte klar, dass die Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie (EU) 2019/944 einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein Unternehmen, das eine Energieanlage betreibt und Strom an Endkunden verkauft, von den Pflichten eines Verteilernetzbetreibers befreit werden kann, sofern die Anlage der Weiterleitung von Elektrizität dient und keine unionsrechtlich vorgesehene Ausnahme greift. Maßgeblich ist allein, ob die Anlage Elektrizität mit Hoch-, Mittel- oder Niederspannung zum Verkauf an Kunden weiterleitet – dann liegt ein Verteilernetz vor.
Entscheidungsgründe des BGH
1. Maßgebliche Auslegung des Begriffs „Kundenanlage“
Der BGH stellt klar, dass nach der aktuellen Rechtslage und unter Berücksichtigung der Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) eine Energieanlage nur dann als „Kundenanlage“ im Sinne des § 3 Nr. 24a EnWG eingestuft werden kann, wenn sie kein Verteilernetz im Sinne des Art. 2 Nr. 28 der Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie (EU) 2019/944 ist.
Verteilernetz ist jede Anlage, die der Weiterleitung von Elektrizität mit Hoch-, Mittel- oder Niederspannung dient und deren Strom zum Verkauf an Großhändler oder Endkunden bestimmt ist.
Sobald eine Anlage diese Voraussetzungen erfüllt, ist sie als reguliertes Verteilernetz anzusehen und unterliegt den entsprechenden Pflichten und der Regulierung.
2. Aufgabe der bisherigen BGH-Rechtsprechung
Der BGH gibt seine bisherige Rechtsprechung auf, wonach für die Einordnung als Kundenanlage insbesondere auf die wettbewerbliche Bedeutung, die Größe der Anlage, die Anzahl der Letztverbraucher und die durchgeleitete Energiemenge abgestellt wurde. Diese Kriterien sind nach der neuen Auslegung nicht mehr maßgeblich.
Die früheren Schwellenwerte (z.B. weniger als 1.000 MWh/Jahr, weniger als 100 Letztverbraucher) sind nicht mehr entscheidend.
Maßgeblich ist allein, ob die Anlage nach europarechtlicher Definition ein Verteilernetz ist.
3. Keine Ausnahme für die streitgegenständlichen Anlagen
Im konkreten Fall dienen die geplanten Leitungsanlagen der Antragstellerin der Weiterleitung von Strom, der an die Mieter verkauft werden soll. Damit handelt es sich um Verteilernetze im Sinne des Unionsrechts.
Die Anlagen sind daher nicht als Kundenanlagen einzustufen.
Die Antragstellerin hat keinen Anspruch auf Anschluss als Kundenanlage und auch keinen Anspruch auf die Bereitstellung von Zählpunkten nach § 20 Abs. 1d EnWG.
4. Richtlinienkonforme Auslegung und verbleibender Anwendungsbereich
Der BGH betont, dass ein (wenn auch stark eingeschränkter) Anwendungsbereich für Kundenanlagen verbleibt:
Kundenanlagen können weiterhin vorliegen, wenn die Weiterleitung von Elektrizität nicht zum Verkauf, sondern zur Eigenversorgung erfolgt (z.B. bei Wohnungseigentümergemeinschaften oder gemeinschaftlich genutzten Anlagen).
Weitere Ausnahmen sind nur in den ausdrücklich in der Richtlinie vorgesehenen Fällen möglich (z.B. geschlossene Verteilernetze, Bürgerenergiegemeinschaften, Direktleitungen).
5. Systemische und wettbewerbliche Erwägungen
Der BGH weist darauf hin, dass eine Vielzahl von Kundenanlagen, die dezentral Strom erzeugen und verteilen, zu einer Belastung und Ineffizienz des Gesamtnetzes führen kann. Die Kosten für die Netzkapazität müssen weiterhin von allen Letztverbrauchern getragen werden, auch wenn einzelne Gruppen durch Kundenanlagen von Netzentgelten befreit sind. Dies kann zu Wettbewerbsverzerrungen führen.
Die Antragstellerin trägt weder die Kosten für die Energieanlagen noch Netzentgelte, was zu einer Wettbewerbsverzerrung gegenüber anderen Stromlieferanten führt.
Es besteht zudem ein Interessenkonflikt, wenn der Betreiber der Kundenanlage zugleich als Stromlieferant auftritt und die Entgelte nicht transparent ausweist.
Fazit:
Worauf ist künftig zu achten?
Die neue Rechtsprechung markiert einen Paradigmenwechsel im deutschen Energierecht:
Die Privilegierung von Kundenanlagen ist künftig auf wenige Ausnahmefälle beschränkt. Wer Strom über eigene Leitungen an Dritte verkauft, betreibt in der Regel ein reguliertes Verteilernetz und unterliegt den entsprechenden Pflichten (z.B. Genehmigungspflicht, Netzentgelte, Abgaben, Umlagen).
Betreiber bisheriger Kundenanlagen müssen ihre Strukturen und Geschäftsmodelle dringend überprüfen und an die neue Rechtslage anpassen. Dies betrifft insbesondere die Wohnungswirtschaft, Industrieparks, Rechenzentren und andere Betreiber dezentraler Versorgungsstrukturen.
Für reine Eigenversorgungsmodelle oder Anlagen, die unter die speziellen Ausnahmen der EU-Richtlinie fallen (z.B. geschlossene Verteilernetze, Bürgerenergiegemeinschaften), bleibt ein Anwendungsbereich für die Kundenanlage bestehen.
Die weitere Entwicklung bleibt abzuwarten: Es ist mit Anpassungen des EnWG und weiteren Klarstellungen durch die Bundesnetzagentur zu rechnen. Bis dahin ist eine sorgfältige rechtliche Prüfung im Einzelfall unerlässlich, um regulatorische Risiken und wirtschaftliche Nachteile zu vermeiden.
Betreiber von Energieanlagen sollten jetzt ihre Versorgungsinfrastruktur und Verträge überprüfen, um festzustellen, ob sie künftig als Verteilernetzbetreiber gelten und welche Pflichten sich daraus ergeben. Die Einhaltung der neuen Vorgaben ist essenziell, um Bußgelder und wirtschaftliche Nachteile zu vermeiden.